I dreamt I saw Joe Hill last night ...

 

Zwei programmatische Aussagen, eingegangen in das Kulturgut traditioneller Volksliedpflege, stehen am Anfang und am Ende dieser Betrachtung. Geführt wird der Nachweis, dass mit dem Erscheinen des Films „Stammheim“ die Vereinnahmung der Gefangenen Meinhof, Baader, Ensslin und Raspe für die demokratische deutsche Geschichte vollzogen ist.

Die zentrale Aussage des Films, dramaturgisch perfekt in die Mitte des Stücks gestellt, als Höhepunkt vorbereitet und als Werbetitel bekannt gemacht, ist diese: „Nach Stammheim wird die BRD nicht mehr so sein, wie sie vorher war.“ Die Intention des Films selbst ist es, diesen Satz zu beweisen und die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Aber beginnen wir mit dem Anfang. Wühlen wir uns durch die ganze aufklärerische Katharsis von Hauff's Stammheim unerschrocken hindurch. Das erste, womit wir dabei konfrontiert werden, ist die vorgebliche Objektivität dessen, was gezeigt wird. Ein Untertitel suggeriert, dass alles so war, wie es dargestellt; und diese Suggestion soll Herz und Hirn des p.t. publici öffnen und vereinnahmen. Wir wollen hier erst gar nicht die Frage stellen, ob auch jedes Komma dokumentarisch belegt, jede Gefühlsregung der Gefangenen empirisch nachweisbar ist. Wir begnügen uns damit, die Dauer des Prozesses (zwei Jahre mit 192 Verhandlungstagen) der Dauer des Films gegenüber zu stellen. Und ist dieses Missverhältnis erst in s Bewusstsein des Publikums gerückt, stellen wir die Frage, nach welchen Kriterien die Zitate wohl gewählt wurden. Was also greift der Film aus einer zweijährigen Geschichte heraus? Und warum?

Die Frage wird schnell beantwortet, denn Hauff und sein Team werden sie vorausgesehen haben. Schon die erste Szene führt uns ein grandioses Wortgefecht, das uns mit der Verteidigungsstrategie der Gefangenen (als Herzstück des Films) bekannt machen soll. Und die laute, so „Stammheim“, den Staat als Klassenstaat, die Justiz als Klassenjustiz zu entlarven. Offen sprechen es die Gefangenen aus: „Was wir hier vor Gericht tun, nutzt nichts. Unsere Argumente, die dasselbe sind wie unsere Taten, die uns vor Gericht gebracht haben, sollen gar nicht verhandelt werden. Also sollen auch nicht unsere Taten verhandelt werden. Es geht dem Gericht nur um unsere Vernichtung.“ Diese Verteidigungsstrategie beweist sich durch ihr Scheitern. Geht es erst darum, den politischen Charakter des Prozesses, die formalistische Ablehnung dieses Charakters durch das Gericht und die damit verbundene Vernichtungsstrategie nachzuweisen, so ist dieser Nachweis dann gelungen, wenn das Gericht ihn nicht zulässt. Und nie geben Justiz – und mit ihr der Staat – dem Argument der RAF recht, dass das Ziel der Anklagevertretung nichts anderes als Eliminierung sei. Durch den tatsächlichen Ausgang aber, durch den formal juristischen Erfolg der Verurteilung blamiert sich der Staat, bestätigt die Gefangenen (im nachhinein – ohne es je gewollt zu haben) und spielt den Anwälten der Gefangenen in die Hände, die deren Verteidigungslinie mit ihren (juristisch‑demokratischen) Mitteln durchzusetzen suchen. Ergebnis dieser Bemühungen ist die Annahme eines Misstrauensantrag gegen den Richter Prinzig. Damit, und mit den Hinweisen auf die Urteile und den Tod der Gefangenen endet der Film.

Dann beginnen unsere Fragen. Und weil der Film sie nicht beantwortet, beantworten wir sie selber.

Erstens: Wurde die Verteidigungsstrategie der Gefangenen richtig dargestellt? Nein, wurde sie nicht. Der Film drückt sich um den tragenden Pfeiler im Argumentationsgebäude der RAF. Wir sprechen von der Forderung nach Behandlung der Gefangenen nach der Genfer Konvention als Kriegsgefangene. Es ist ungeheuer wichtig, genau diesen Punkt zu betonen. Denn erst dies erlaubt das Verständnis der im Film gezeigten Verteidigung, der Denunzierung des Rechtsstaats. Dies zentrale Argument geht nämlich so: Die USA führen einen völkerrechtlich nicht erklärten Krieg gegen Vietnam, als Bürgerkrieg im Süden wie als konventionellen Krieg im Norden. Die RAF versteht sich, – völkerrechtlich genauso ungeklärt, aber das ist ja angesichts bürgerlicher Legalität, die von ihren Propagandisten auch nicht erfüllt wird, egal – die RAF also versteht sich als bewaffnete Abteilung der vietnamesischen Armeen, die nichts anderes tut, als andre bewaffnete Abteilungen von Armeen es taten, die im Hinterland des Feinds operieren und Logistik und Nachschub zerstören.

Will ihr nun der Status von Kriegsgefangenen zugestanden werden, ist der ganze Stammheimer Prozess unführbar. Die Konsequenzen wären Internierung in einem Kriegsgefangenenlager und Entlassung nach Beendigung des Kriegs. Erringt die RAF diesen Status, so gibt das Gericht gleichzeitig die Verwicklung der BRD in den Vietnamkrieg zu. Will dies der Staat nicht zugeben, müssen die Gefangenen zum Verstummen gebracht werden.

Zweitens: Warum wird dieser zentrale Punkt verschwiegen? Es ist vollkommen klar, dass unter Auslassung der Forderung nach Anerkennung des Kriegsgefangenenstatus die Darstellung der Verteidigung, also der ganze Film, einen eigenen Sinn bekommt. Die Verteidigung, wenn auch im Wortlaut den nachprüfbaren Aufzeichnungen und Dokumenten entnommen, wird durch diese Beschneidung zu einem ganz neuen, ganz anderen, von der RAF nie gewollten Diskurs. Nicht geht es mehr um die Frage des Kriegs im Allgemeinen, nicht geht es mehr um die Kriegspolitik der BRD im besonderen, nicht geht es mehr um die RAF, die in diesem Krieg eingreift und den Feind im Hinterland trifft, nicht geht es mehr um eine Verteidigung, die diese Zusammenhänge in s Rampenlicht zerrt und erst dadurch und die Reaktion des Staats darauf den faschistischen Charakter der BRD festschreiben will.

Durch Auslassung des zentralen Arguments geht es plötzlich nur noch um Demokratie. Die RAF wollte noch – Demokratie hin, Faschismus her – den Nachweis führen, dass die BRD ihre Verwicklung in den internationalen militärischen Klassenkampf in Form des Vietnamkriegs nie zugeben kann. Im gegenteiligen Fall lieferte sie dem proletarischen Klassengegner Munition in Form einer Rechtfertigung der Aktionen der Gefangenen. Und die Forderung und Argumentation der Gefangenen war schlechthin unannehmbar. Auch ein Prozess etwa wegen Hochverrat hätte ja die Zusammenhänge aufgerissen und bestätigt, die die Gefangenen beschworen. Bestand die RAF auf dem politischen Charakter des Prozesses, so musste das Gericht eben diesen Charakter verschweigen, um sich nicht zum Komplizen der Gefangenen zu machen. Der Ausweg war die Vernichtung der RAF durch Kriminalisierung (d. h. Zerstörung und Verweigerung des politischen und sozialen Umfelds und Diskurses) und Verurteilung (d. h. psychische und physische Zerstörung).

Der Film greift aus diesem Zusammenhang nur noch das Gericht heraus, das nun – für sich allein – aus irrationalen Gründen böse und ungerecht. ist. Zu diesem Zweck verwendet der Film auch eine Bildersprache, die die Gefangenen als durchaus kommode, vitale und sympathische Menschen zeichnet, während der Zeuge der Anklage (aus den Reihen der Bewegung) durch archetypisches Bösewichtverhalten besticht (gerade dass er nicht von Klaus Kinsky gegeben wird); der Richter Prinzig sieht so aus, wie sich ein jedes einen sadistisch‑korrekten Beamten denkt, die Polizisten sind schicke Schläger in verdächtig gut sitzenden Uniformen, etcet. etcet.

Sind wir aber erst einmal so weit, so fügen sich die verschiedenen Elemente des Verschweigens und der Sympathiegewinnung zu einem raffinierten Gesamtbild. Ist nämlich erst der politische Konnex der RAF verschwiegen und verstümmelt, das Auftreten von Staat und Justiz damit ebenfalls jedes Zusammenhalts entkleidet und der Denunziation der Ungerechtigkeit und Irrationalität preisgegeben, dann wird auch klar, dass die netten Menschen aus dem politischen bewaffneten Kampf die Sympathien, die der Film für sie erzeugt, auch verdienen. Denn jetzt sind sie Opfer, mit denen sich ein jedes identifizieren kann, Opfer einer Behördenmaschinerie, und auch dieser Gehalt wird in wunderschönen, blautriefenden Standfotos suggeriert; jetzt können sie bemitleidet werden gegenüber einem kalten, unmenschlichen, rechtlosen Staatsapparat. Das Spiel ist perfekt gemischt und zur Disposition steht nicht mehr der Klassenstaat mit seinen kriegerschen Ausschreitungen, sondern der Rechtsstaat mit seinen undemokratischen Ausschreitungen.

Spätestens ab jetzt hat das Niveau des Diskurses die Ebene des Schulfachs „Politische Bildung“ erreicht, der Film kann jederzeit in den Schulen gezeigt werden, um ganz allgemein vor der Macht der Gerichte zu warnen – „Die zwölf Geschworenen“ auf deutsch. Es ist keine Rede mehr (und war im Film auch nie) von den Zwängen, die dem Staat auferlegt wurden durch die Politik der RAF, es geht nicht um den Druck, der auf dem Gericht lastet, bewaffnete Klassenkämpfer zu erledigen und dabei die Politik draußen zu lassen, nur noch die formaldemokratischen Verfahren und Fehler interessieren. Und dagegen werden Meinhof und Ensslin, Baader und Raspe in den Zeugenstand des goldenen Bären gerufen. Und nicht mehr die Tatsache des Klassenkampfs und ihr politisches Konzept sollen sie vertreten und verteidigen, sondern Zeugnis sollen sie ablegen von der Notwendigkeit einer funktionierenden Demokratie, die die Auswüchse Stammheims verhindern und verunmöglichen soll. Von den Auswüchsen Vietnams wird nicht mehr gesprochen.

Drittens: Ist der Film jetzt gut oder schlecht? Er ist vor allem eines: durch und durch bürgerlich. Er ist ein politischer Film, dessen Anliegen ist, den Wert der Demokratie zu preisen. Er ist ein politischer Film, der seine Protagonisten diesem Zweck demokratischer Auseinandersetzung unterordnet. Er ist ein Film, der, um seine Zwecke zu erreichen, Meinhof und Ensslin, Baader und Raspe zu einem Verein mündiger Staatsbürger macht, die in ihren Rechten von einem undemokratischen Gerichtshof beschnitten werden. Im Zentrum steht dieser Hof – als unfähig dargestellt, korrekt, menschlich und demokratisch zu agieren – und soll in der Phantasie der Öffentlichkeit einer Gesellschaft weichen, die genauso ist wie im Film beschrieben und von der Verfassung vorgesehen, nur eben redlicher, rechtlicher und nicht korrumpiert. Der Stammheimer Prozess wird zum Auslöser dieser staatsbürgerlichen Visionen und so seines Inhalts entkleidet

Letztens: Wenn das stimmt, wie passt dies mit der Objektivität zusammen? Schlussendlich ausgezeichnet. Sind die Gefangenen erst einmal zu Volkshelden der Demokratie stilisiert worden und so als allgemein verständlich vorausgesetzt, kann getrost daran gegangen werden, am Buchstab der Dokumente klebend, jedes Komma, auch das persönlichste, für den Film und seine Aussage zu nutzen. Lautet diese doch: So wie der Film an den real historischen Ergüssen Frau Meinhofs klebt, so sollte der Staatsbürger an der (selbstverständlich gerechten) Verfassung kleben. Und die Zitate aus der Intimität der Gefangenen machen diese Botschaft deutlich. Ein Beispiel: Aufzeichnungen Frau Meinhofs werden benützt, um Spannungen unter den Gefangenen zu dokumentieren; zunächst als Szene in der Gefängniszelle, die eben dem menschlichen Aspekt Rechnung tragen soll. Danach der Tod Frau Meinhofs. Danach die Behauptung des Gerichts, der Tod sei kein Mord, sondern Selbstmord wegen unerträglicher Spannungen in der Gruppe. Danach die Denunziation des Gerichts durch Anwälte und Gefangene (und wohl auch durch den Film), es könne sich nur durch ungerechtfertigtes Abhören der Zellen in Kenntnis von derart intimen Vorfällen setzen.

Wie schön sich doch eins zum andren fügt! Und gerade diese Szenenfolge, die nur mit Dokumentarischem arbeitet (und hier interessiert nicht einmal das Dokument, sondern nur der Anspruch), macht wiederum klar: Im Mittelpunkt steht das ungerechte Gericht (drum ist der Film auch gleich aus, nachdem Prinzig gefallen ist – die Funktion der RAF für den demokratischen Diskurs ist erfüllt, jetzt kann sie sterben). Nicht woher die Spannungen kommen, ob aus der psychischen Vernichtung, der Unmöglichkeit der politischen Artikulation in der Isolation, ob aus Zweifeln oder Stärke, interessiert (und unter uns gesagt, es geht auch keins was an außer Frau Meinhof und ihre Freunde), es interessiert bloß ein ungerechtfertigter Lauschangriff des Gerichts. Dass dieser Lauschangriff in ästhetisch‑peinlicher Form von Hauff nachvollzogen wird, interessiert schon wieder nicht mehr. Denn jetzt handelt es sich nicht mehr um Ungerechtigkeit, sondern um Objektivität. Und alles ist klar. Frau Meinhof ist eine tragische Heldin, der noch im Tod die Rolle zukommt, Sympathie für eine ihr fremde Sache zu produzieren. Und dies ist die Crux aller Filme dieser Art, sei es „Sacco und Vanzetti“, „Das Mädchen und der Mörder“, „Z“ oder eben „Stammheim“. Die Sympathie, die für die unglücklichen Opfer des Klassenkampfs erzeugt wird, richtet sich gegen ihre Ziele.

Neulich saß ich im Kaffeehaus, und im Spielzimmer tobte eine Horde Kleinbürger; kleine Geschäftsleute, Taxifahrer, Selbständige, Kaffeehauspublikum eben. Und einer griff zur Harmonika und legte sie sich um und spielte, und der ganze betrunkene Verein sang. Und dann sangen sie das Lied vom Räuberhauptmann Grasl, und sie sangen die letzte Strophe, wo Grasl seine ungezogenen Kumpane zurechtweist:
„lost s gschwinda de dian aus
gebt s n wiatn sei göd
mia hoin se fon d reichn
wos uns no föd.“
(Lasst sofort das Mädchen in Ruhe und gebt dem Wirt das Geld zurück. Wir holen uns von den Reichen, woran es uns noch fehlt.)
Und sie sangen den Kehrreim ein zweites Mal, und einer hatte Tränen in den Augen und seufzte gerührt: „Ein schönes Lied“.

Ein schöner Film.